Hilfe, mein Kind spricht Kauderwelsch!

« Eine Person, eine Sprache » lautet eine weit verbreitete Regel für die zwei- oder mehrsprachige Erziehung von Kindern. Wenn Kinder mit mehr als einer Sprache aufwachsen, produzieren sie im Kleinkindalter trotzdem häufig Äußerungen, in denen die verschiedenen Sprachen gemischt vorkommen.

Bei Eltern, Erzieherinnen und Erziehern sowie Lehrkräften rufen solche Sprachmischungen oft große Sorgen hervor – dabei lernen Kinder im Laufe der Sprachentwicklung die Trennung der Sprachen meist ganz von selbst. Wir haben das folgende Interview mit der Sprachwissenschaftlerin Prof. Dr. Rosemarie Tracy von der Universität Mannheim auf der Website von BIBER (das Netzwerk für frühkindliche Bildung) gefunden.

BIBER: Für kleine Kinder ist es eine große Chance, wenn sie im Alltag mit mehr als einer Sprache aufwachsen dürfen. Doch wenn sie neben Deutsch auch noch Englisch, Türkisch oder Chinesisch hören – wie lernen sie dann eigentlich, die verschiedenen Sprachen auseinanderzuhalten?

Rosemarie Tracy: Im Alltag ist es normalerweise nicht der Fall, dass Kinder ständig mit allzu vielen Sprachen beschallt werden. Nehmen wir die typische Situation, in der ein Kind im Elternhaus mit zwei oder vielleicht auch drei Sprachen konfrontiert wird, weil normale Bezugspersonen wie Mama, Papa oder Oma mit ihm in zwei oder drei verschiedenen Sprachen sprechen. Für eine mehrsprachige Sprachentwicklung ist das eine gute Voraussetzung. Wichtig ist es dann allerdings, dass das Ganze kontinuierlich weitergeht, denn Kinder verlernen Sprachen auch sehr schnell. Wenn ein Kind in der Kita Chinesisch oder Englisch hört und die Sprachen dann zwei oder drei Jahre lang nicht mehr hört, wird es sie wieder vergessen. Und schließlich kommt es auf die Sprachenkombination an. Niederländisch und Deutsch sind sich beispielsweise in Bezug auf Aussprache, Struktur und Wortform sehr ähnlich. Das macht es Kindern ein bisschen schwerer, die Sprachen zu sortieren, als wenn sie es mit zwei ganz unterschiedlichen Sprachen zu tun haben wie Türkisch oder Norwegisch. Je mehr Kontraste es zwischen den Sprachen gibt, desto leichter kann ein Kind auch erkennen, dass es sich um ganz unterschiedliche Dinge handelt.

BIBER: Ab welchem Alter beginnen die Kinder, die Unterschiede zwischen verschiedenen Sprachen zu erkennen?

Rosemarie Tracy: Das passiert schon sehr früh, auf der Ebene der Lautung bereits im ersten Lebensjahr. Selbst wenn sie selbst noch lallen, nehmen Kinder schon die verschiedenen Rhythmen ihrer Umgebungssprachen auf. Sobald sie Wörter kombinieren, erkennt man die Unterscheidung noch deutlicher: Ein eineinhalbjähriges Kind, das mit Deutsch und Englisch aufwächst, sagt beispielsweise auf Deutsch « Tür aufmachen », auf Englisch dagegen « open door ». An diesen Zweiwortsätzen kann man schon erkennen, dass die Verben im Deutschen und im Englischen an unterschiedlichen Stellen stehen. Sofern die Sprachen sich hinreichend unterscheiden, können Kinder sie schon sehr früh auseinander halten. Wenn die Sprachen sehr ähnliche Satzstrukturen haben, verlangen sie dem Kind mehr « Sortierarbeit » ab.

BIBER: Man hört manchmal Eltern von zweisprachigen Kindern klagen, dass die Kleinen einen Mischmasch aus den verschiedenen Sprachen sprechen. Was erwidern Sie als Sprachwissenschaftlerin Eltern, Erzieherinnen und Erziehern oder Lehrkräften, denen das « Kauderwelsch » von zweisprachig aufwachsenden Kindern Sorgen bereitet?

Rosemarie Tracy: Wenn Kinder von Geburt an mit zwei Sprachen aufwachsen, mischen sie die Sprachen bis zum Alter von drei Jahren, teilweise sogar sehr intensiv. Einen Grund zur Beunruhigung gibt es nicht, denn diese Mischphasen sind ganz normal und aus der Forschung sehr gut bekannt. Besonders häufig wird da gemischt, wo die Sprachen sehr ähnliche Strukturen haben. Die Sätze « Der ist groß » und « He is tall » sind zum Beispiel von der Wortstellung her gleich und sogar das Verb klingt sehr ähnlich. Diese Ähnlichkeiten sind wie eine Brücke, über die man dann leicht von einer Sprache in die  andere gelangt. So kommt es zu Sätzen, in denen beide Sprachen gemischt werden, wie « He is groß » oder « Er is tall ». Genauso kann es passieren, dass man nicht von einem « nice breakfast » oder einem « tollen Frühstück », sondern von einem « tollen breakfast » oder einem « nice Frühstück » spricht. Das passiert aber auch erwachsenen Bilingualen, denn die Bezeichnungen für eine Sache in beiden Sprachen sind im Kopf relativ eng miteinander verknüpft. Wenn ich Englisch rede und das Wort « breakfast » suche, dann wird in meinem Kopf auch das Wort « Frühstück » ein bisschen aktiv, das heisst beide Wörter gehen gewissermaßen zeitgleich « ins Rennen ».

BIBER: Es kann sogar so weit kommen, dass innerhalb eines Wortes die Sprache gewechselt wird…

Rosemarie Tracy: Ja, dann spricht jemand zum Beispiel von einem « breakstück » oder « Frühfast ». Auch einem Einsprachigen kann es ja passieren, dass er nicht von « schmutzig » oder « fettig », sondern von « schmettig » spricht. Solche Versprecher passieren, wenn wir uns beim Sprechen nicht schnell genug zwischen den verschiedenen Optionen in unserem Kopf entscheiden können. Für mehrsprachige Menschen liegt darin eine besondere Herausforderung; wer mehr weiß, hat eben auch die Qual der Wahl. Bereits Kinder sind sehr früh in der Lage, sich nach solchen Versprechern auch selbst zu korrigieren.

BIBER: Es wird häufig empfohlen, dass pro Person eine Sprache gesprochen wird. Was halten Sie von dieser Regel?

Rosemarie Tracy: Wenn die Bezugspersonen diese Sprachen gerne und gut sprechen, ist das eine sinnvolle Empfehlung. Um eine Regel, die immer und überall gelten muss, handelt es sich dabei allerdings nicht. Denn die Eltern leben ja nicht im luftleeren Raum: Eine Mutter, die mit ihrem Kind in Deutschland französisch spricht, wird mit ihrem Kind an der Hand ja auch aus dem Haus treten, und sie wird dann mit dem deutschen Bäcker selbstverständlich deutsch sprechen, sofern sie dazu in der Lage ist. Und wenn das Kind einsprachige deutsche Freunde zu Besuch hat, wird die Mutter auch mit denen deutsch sprechen, weil dies allein schon die Höflichkeit gebietet. Dadurch lernt das Kind auch etwas Wichtiges, nämlich dass seine Mutter sich als kompetente Bilinguale je nach Umgebungsbedingungen und je nach Gesprächspartner flexibel verhält.

BIBER: Haben Sie noch andere Empfehlungen, wie man die Kinder beim Auseinanderhalten der Sprachen unterstützen kann?

Rosemarie Tracy: Wichtig ist vor allem, dass man an das Kind keine überzogenen Erwartungen richtet: Wenn ein Kind im Elternhaus mit zwei Sprachen konfrontiert wird, beherrscht es wahrscheinlich früh die Bezeichnungen für Alltagsgegenstände in Kinderzimmer und Küche in beiden Sprachen. Wenn es aber mit der Mutter im Zoo auf Französisch über Tiere redet, so beherrscht es das entsprechende Vokabular nicht automatisch auch auf Deutsch. Man entwickelt ein spezifisches Vokabular zu einem bestimmten Thema in der einen oder anderen Sprache – je nachdem, welche Erfahrungen man macht. Das sagt einem ja eigentlich schon der gesunde Menschenverstand. Außerdem kann es immer mal passieren, dass ein Kind nicht beide Sprachen aktiv sprechen möchte. Kinder haben da ihre ganz eigenen Motive und machen sich auch schon früh Gedanken darüber, wer wann warum welche Sprachen spricht. Wir hatten einmal in einem Forschungsprojekt einen kleinen Jungen, der von seiner Mutter auf Englisch angeredet wurde und vom Vater auf Deutsch. Was sich irgendwann herausstellte: Der Junge hatte die Hypothese, dass das Englische nur von Frauen gesprochen wird. In der Literatur ist auch bekannt, dass Kinder ihre Eltern danach fragen, warum sie unterschiedlich reden. Außerdem verweigern manche Kinder eine Sprache zeitweise, weil sie mit einer anderen Sprache als der Umgebungssprache zum Beispiel in der Kita nicht auffallen wollen. Die Eltern sollten dann durchaus konsequent bei ihrer Sprachpolitik bleiben, aber auch tolerant sein und das Kind nicht zwingen, die eine oder andere Sprache zu sprechen. Häufig löst sich das Problem im Laufe der Zeit dann von allein.

BIBER: Im Alltag kann man auch immer wieder Jugendliche und Erwachsene beobachten, die in Gesprächen permanent zwischen den Sprachen wechseln. Ist das nicht ein Hinweis darauf, dass diese Menschen die einzelnen Sprachen nur unvollständig gelernt haben?

Rosemarie Tracy: Wenn man in der Straßenbahn jemanden Sprachen mischen hört, denkt man leicht, der beherrscht keine Sprache richtig. Dabei kann man sich allerdings täuschen: Eine Mannheimer Kollegin, Inken Keim, hat mit deutsch-türkischen Jugendlichen in Mannheim gearbeitet und festgestellt, dass sie über ein breites sprachliches Repertoire verfügten: Je nach Situation und Gesprächspartner sprechen sie gut Türkisch, Standarddeutsch, Mannheimerisch sowie eine reduzierte Kontaktsprache ohne Artikel und Präpositionen, die man aus Äußerungen wie « Ich geh Schwimmbad » oder « Darf ich Toilette? » kennt. Diese Jugendlichen setzen Sprachmischungen auch als stilistisches Mittel ein, etwa um etwas zu dramatisieren oder in den Vordergrund zu stellen. Im Gespräch mit Einsprachigen verwenden sie solche Mischformen dagegen nicht. Ein solches Mischverhalten ist bei kompetenten Bilingualen jeden Alters verbreitet: Erwachsene verwenden ihre verschiedenen Sprachen beispielsweise, um in einer Erzählung den Hauptstrang von Hintergrundinformationen zu trennen. Kinder setzen diese Strategie auch früh beim Rollenspiel ein, zum Beispiel wenn sie für unterschiedliche Puppen sprechen. Einen derartig kompetenten Umgang mit ihren Sprachen können sie aber natürlich nur entwickeln, wenn sie in beiden Sprachen schon früh entsprechende anregende differenzierte sprachliche Angebote bekommen.

BIBER: Welche Erwartungen stellen Sie in diesem Zusammenhang an pädagogische Fachkräfte?

Rosemarie Tracy: Gerade für Kinder mit Migrationshintergrund und für Kinder, die im Elternhaus wenig Anregung in ihrer deutschen Erstsprache bekommen, spielen Erzieherinnen und Erzieher eine eminent wichtige Rolle. Dafür müssen diese aber auch wissen, dass Kinder keine reduzierte Sprache, sondern ein normales und kontrastreiches Sprachangebot brauchen. Das gelingt am besten in kleinen Gruppen, wo man leicht einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus schaffen und die Kinder individuell ansprechen kann. Wenn die Kinder Gelegenheit haben, reichhaltigem Input zu begegnen, entwickeln sie sich zügig. Aber wir können nicht erwarten, dass die Kinder etwas lernen, für das wir ihnen keine anregenden Modelle anbieten.

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