Kindertagesstätten, die eine gute pädagogische Qualität bieten, können die psychische Widerstandskraft von Kleinkindern stärken.
Eine gute Kinderkrippe kann ausgleichend und schützend wirken. Dass dies auf der kognitiven Ebene funktioniert, war durch Studien schon belegt. Nun kann das Marie Meierhofer Institut für das Kind (MMI) zum ersten Mal nachweisen, dass Kitas auch die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern mit schwierigen gesundheitlichen oder sozialen Bedingungen verbessern, indem sie Belastungen ausgleichen und die psychische Widerstandskraft stärken. So können beispielsweise Hyperaktivität oder Verhaltensprobleme abgefedert werden.
Die Studie ist Teilprojekt einer für die Schweiz einmaligen, gross angelegten Forschungsarbeit zur Qualität der frühkindlichen Bildung in Kinderkrippen. Ziel der Arbeit war es, ein Werkzeug zu entwickeln und in 25 Kindertagesstätten aus der gesamten Deutschschweiz zu evaluieren, das die Qualität der pädagogischen Arbeit nachhaltig verbessert.
Das Werkzeug nennt sich Bildungs- und Lerngeschichten, stammt ursprünglich aus Neuseeland und liegt in einer für die Schweiz adaptierten Version offiziell vor.
Qualität allein ist entscheidend
Im Rahmen dieser grossen Studie wollte das MMI auch wissen, welche Auswirkungen eine gute pädagogische Qualität auf die psychische Widerstandskraft von Kleinkindern hat. Dazu haben die Forscherinnen 162 Kinder im Alter von drei bis fünf Jahren beobachtet. In einem ersten Schritt mussten die Eltern einen detaillierten Fragebogen ausfüllen, der Auskunft über 20 Risikofaktoren gab. Dazu gehören biologische Risiken wie Frühgeburt oder chronische Krankheiten ebenso wie psychosoziale Belastungen in der Familie.
Weil sich solche Belastungen kumulieren, errechneten die Forscherinnen aus all den Angaben der Eltern einen Index für jedes Kind. Je höher die Zahl, desto höher die Belastung. Gleichzeitig untersuchten die Forscherinnen mit einer international standardisierten Methode die Qualität der jeweiligen Kitas.
Ein Jahr später folgte eine zweite Erhebung. In dieser zweiten Untersuchung erfragten die Forscherinnen zudem mit einem standardisierten Fragebogen («Strengths and Difficulty Questionnaire») den sozialen und emotionalen Entwicklungsstand der Kinder. Und sie untersuchten ebenfalls ein weiteres Mal die Qualität der Kitas.
Dabei zeigte sich klar: Ob das Kind profitiert, hängt in erster Linie von der pädagogischen Qualität der Kita ab. «Eine weniger gute Kita kann keine oder nicht dieselbe Schutzwirkung entfalten», sagt Studienleiterin Corina Wustmann Seiler. Keine Auswirkungen hat hingegen die Anzahl der Tage und die zeitliche Dauer, während welcher das Kind die Tagesstätte besucht.
Die Kinder machen lassen
Was aber bedeutet die geforderte gute pädagogische Qualität in der Praxis? Ein eigens auf die belasteten Jungen und Mädchen zugeschnittenes Vorgehen braucht es nicht; es genügt, das anzuwenden, was in der Bildungsforschung eigentlich längst erwiesen ist. Kleine Kinder lernen vor allem informell. Sie machen dann Fortschritte, wenn sie tun dürfen, was sie interessiert, und wenn sie entsprechendes Material zur Verfügung gestellt bekommen. Ebenso wichtig ist es, dass sie sich ernst genommen fühlen, dass ihnen die Erzieherin Zeit widmet und mit ihnen kommuniziert. Hingegen profitieren sie nur wenig von vorgegebenen Aktivitäten wie gemeinsamen Bastelarbeiten.
Diese Erkenntnisse werden zwar in der Ausbildung gelehrt. Sie in die Praxis umzusetzen, ist allerdings anspruchsvoll. Offenbar kommen den Erzieherinnen oft althergebrachte Vorstellungen in die Quere. Sie vertrauen auf Rituale und Ordnung statt auf das Gelernte. Das hat der deutsche Forscher Werner Thole in einer Studie zur Ausbildung von Krippenpersonal festgestellt. Demnach stimmen zwar vier von fünf Krippenleiterinnen dem Grundsatz zu, das Kind müsse Akteur seiner eigenen Entwicklung sein. «In der Praxis ist die pädagogische Arbeit aber eher anweisend und regulierend», sagt Thole.
Konkret heisst das beispielsweise, dass Krippenleiterinnen ein sich entwickelndes freies Rollenspiel unter Kindern unterbrechen, um mit ihnen eine vorbereitete Bastelarbeit anzufangen. Pädagogisch besser wäre es, die Kinder noch eine Weile zu beobachten, deren Ideen aufzugreifen und zusammen mit ihnen weiterzuentwickeln.
Ein ähnliches Bild, wie Thole es fand, zeigte sich auch in der ersten Messung der hiesigen Krippenqualität, welche das MMI machte, bevor die Einführung der «Bildungs- und Lerngeschichten» gestartet wurde. Viele Kitas schnitten damals in den pädagogisch entscheidenden Punkten eher mittelmässig ab, manche sogar schlecht.
Inzwischen hat sich allerdings einiges verbessert, wie das MMI festgestellt hat – und zwar interessanterweise nicht nur in jenen Krippen, welche die Bildungs- und Lerngeschichten eingeführt haben, sondern auch in der Kontrollgruppe. «Diese Entwicklungen werden ansatzweise auch durch den allgemeinen Zeitgeist zur frühkindlichen Bildung unterstützt», so interpretiert Heidi Simoni, Leiterin des MMI, die Erkenntnisse.
Besonders positiv auf die Qualität wirkt es sich aus, wenn Erzieherinnen die Kinder regelmässig beobachten und versuchen herauszufinden, was sie interessiert. Das hat die Studie des MMI klar nachgewiesen.
(Tages-Anzeiger, 04.09.2013)