« Mia, Du lächelst so schön » (oder: Wie Kinder stark werden)

Ist Schule oft nur Fehlersuche? In Freiburg lernen Grundschüler in speziellen Glücksstunden, nur über ihre Stärken zu sprechen. Sie trainieren Selbstvertrauen – und auch die Lehrer lernen viel dazu.

« Nicht wehtun, auch nicht am Herzen », lautet die wichtigste Regel an der Vigelius-Grundschule in Freiburg. Der Zweitklässler Felix nimmt sie sehr ernst. Kürzlich hat sein bester Freund eine Mitschülerin geschlagen, da hat er zu ihm gesagt: Mit dir spiele ich nicht mehr. Hinterher war er untröstlich. Der Siebenjährige hatte Angst, den Freund für immer zu verlieren.

Der Konflikt ist inzwischen gelöst: Felix’ Freund hat aufgehört, die Klassenkameradin zu ärgern. Der Junge ist erleichtert. Sein couragiertes Eintreten für die Mitschülerin war für ihn eine klare Sache. Warum? Felix denkt nach. « Der Wille muss stärker sein als die Bösigkeit », platzt es dann aus ihm heraus. Überrascht lauscht er den eigenen Worten nach. Dann nickt er zufrieden.

Auch Felix’ Mutter ist froh über die Stärke, die ihr Sohn an den Tag gelegt hat. « Alle hatten Bedenken, dass er in der Schule untergebuttert wird », sagt Alexandra Dörr. Felix galt als sensibel und unsicher. Im Kindergarten hieß es, er habe keine Körperspannung, das blasse Kind musste zur Ergotherapie. « Felix hat so viele tolle Fähigkeiten, aber immer wieder stand im Vordergrund, was er noch nicht konnte. »

Die Dörrs hatten Glück. In der Vigelius-Grundschule steht ein ungewöhnliches pädagogisches Projekt auf dem Stundenplan: Die Abc-Schützen üben nicht nur Lesen und Schreiben, sondern absolvieren auch ein Programm, in dem sie Selbstvertrauen, Mut und seelische Widerstandskraft trainieren. « Die Kinder sollen ihre Stärken entdecken und ihre Schwächen akzeptieren », sagt die Schulleiterin Gretel Maertins.

Zwar kann auch die beste Schule nicht verhindern, dass ihre Zöglinge im Leben an Herausforderungen scheitern werden – als Kinder wie später als Erwachsene. Aber sie kann die Schüler darauf vorbereiten, mit schmerzhaften Erfahrungen souverän fertigzuwerden. Sie kann ihnen Kraftreserven und psychische Stabilität mitgeben, von denen sie auch in schwierigen Umständen zehren können. Auf eine solche Krisenfähigkeit zielt das Freiburger Pilotprogramm, das den Kindern auf ihren Lebensweg etwas mitgeben soll, das sich « Resilienz » nennt: Diese Widerstandskraft angesichts von Schwierigkeiten kann man sich wie ein inneres Trampolin vorstellen, das einen nach Niederlagen wieder in die Höhe wirft.

300 Kinder lernen in der Vigelius-Schule, viele stammen aus « bildungsfernen Elternhäusern », wie die Rektorin sagt. Ein Gefühl für den eigenen Wert zu entwickeln sei « ungeheuer schwierig, wenn man zu Hause keine stabilen Beziehungen hat. Und das ist bei vielen unserer Schüler leider der Fall ». Graue Reihenhäuser und Hochhäuser prägen das Einzugsgebiet der Schule; hier wohnen Menschen mit kleinen Einkommen und viele Arbeitslose. Der Migrantenanteil ist deutlich höher als anderswo in der beschaulichen Hauptstadt des Schwarzwalds. Und die Erziehungsmethoden sind härter: Rund die Hälfte der Kinder beziehe zu Hause noch Prügel, schätzt die Schulsozialarbeiterin Stefanie Schopp.

Seit Resilienzforscher an der Evangelischen Hochschule Freiburg dem Vigelius-Team vor vier Jahren anboten, zur Projektschule zu werden, trainiert die Grundschule Selbstvertrauen, Empathie und Problemlösungsverhalten in speziellen Sitzungen, die die Klassenlehrer nach Möglichkeit gemeinsam mit einer Sozialarbeiterin leiten. Genauso wichtig ist allerdings, dass die Lehrer im täglichen Umgang mit ihren Schülern die Prinzipien der Resilienzförderung beherzigen: Stärken unterstützen, den Kindern mit Respekt und Wertschätzung entgegentreten. Alle Vigelius-Lehrer sind am Anfang des Projekts dafür geschult worden. « Das Entscheidende ist die innere Haltung », erklärt Schopp. « Wir müssen auf das schauen, was das Kind kann – und ihm zubilligen, zu eigenen Lösungen zu kommen. »

Das fällt auch der Sozialpädagogin nicht immer leicht: « Neulich beobachtete ich ein Kind dabei, wie es unbeholfen ein Buch ins Regal räumte. Mein Impuls war sofort, ihm das abzunehmen. » Mühsam habe sie sich beherrscht. Das Kind bewältigte die Aufgabe schließlich allein, seine Augen hätten geleuchtet. « Solche Erfolgserlebnisse haben Kinder nur, wenn wir ihre Versuche nicht voreilig abwerten, indem wir eingreifen », sagt Schopp.

« Kennt ihr dieses Kribbeln? »

Es ist 14 Uhr an einem verhangenen Montag. Lärmend drängen die Schüler der 2 B aus der Pause in den Klassenraum. Bekim stürmt zu seiner Lehrerin, Frau Klepper. « Am 24. kommt der Mörder! », ruft der Junge. Anonyme Sprayer haben am Wochenende die Zahl 24 außen an die Schule gemalt, dazu grimmige Grimassen. « Der Tod kommt », jammert Bekim mit nassen Augen. « Schsch », macht Tanja Klepper und nimmt den Jungen mit den Stoppelhaaren in den Arm, « wir sind hier ganz sicher. Das haben nur Jugendliche gemacht, um euch zu erschrecken, der Hausmeister wischt den Quatsch weg. »

Es wird ruhiger, man hört jetzt die Klänge des Lieds « How could anyone » von Shaina Noll. Die Willkommensmusik, die die Lehrerin aufgelegt hat, ist ein Zeichen: Jetzt beginnt die « Glücksstunde ». So heißt bei den Kindern das Resilienztraining, das an etwa zehn Doppelstunden pro Schuljahr stattfindet. Die 2 B bildet einen Stuhlkreis. Ein gewispertes « Hallo » wandert von Ohr zu Ohr. Die Kinder müssen ganz leise sein, sonst nämlich traut sich der Kobold nicht hervor, « Hallo Kobold » flüstert es aufgeregt aus 26 Kehlen. Die Sozialarbeiterin kramt die Handpuppe aus der Tasche. « Wie geht es euch? », fragt die Stofffigur in die Runde. Jedes Kind darf einzeln antworten. « Gut », sagen fast alle, auch Bekim, und als das letzte Kind dran ist, steigert es die Zufriedenheitsbekundung zu « supersuperschön ».

Kern jeder Glücksstunde ist eine Geschichte. Tanja Klepper liest sie vor und zeigt die Bilder hoch. Es geht um eine junge Ente, die nicht schwimmen mag. Nur mit einem Gummireif traut sie sich ins Wasser. Als die kleine Ente tauchen soll, bleibt sie oben; die anderen Entenkinder lachen sie aus. Dann sirrt eine Libelle direkt auf sie zu; sie flieht auf eine Leiter, die auf einen Sprungturm führt – und schon saust die Unglücksente in die Tiefe. « Ich fliege », ruft sie plötzlich begeistert, « ich habe ein tolles Kribbeln im Bauch. » Unten warten ihre Spötter – diesmal als Bewunderer.

« Kennt ihr dieses Kribbeln? », fragt Tanja Klepper die Kinder. « Dass man etwas schafft und sich so freut, dass es im Bauch prickelt? » Es ist unruhig, ein Mädchen in braunem Kleid kippelt mit dem Stuhl. Yann krakeelt, Bekim auch – diesmal fröhlich. Die Lehrerin schlägt energisch mit dem Klöppel an die Klangschale vor ihr und fragt die Klasse noch einmal. Yann erbarmt sich. « Ich bin mal vom Einmeterbrett gesprungen », ruft er, « das hat ganz doll im Bauch gekribbelt. » Mia hat den Handstand geschafft. Rahina schnippt mit den Fingern, dann grölt sie: « Als ich aufs Klo gehen konnte! » « Du erinnerst dich noch an den Tag, an dem du keine Windel mehr brauchtest? », fragt die Lehrerin. Rahina nickt schelmisch. Die Klasse lacht.

Alle Kinder bekommen jetzt bunte DIN-A4-Blätter. Sie sollen in jede Ecke eine ihrer Fähigkeiten schreiben. Hinterher kommen die Bögen in « Stärke »-Ordner. In der Mappe sammelt jeder Schüler die wichtigsten Erfolge und Einsichten während seiner gesamten Grundschulzeit. Sonnenblumen aus Papier sind hier beispielsweise abgeheftet, sie hingen zuvor an den Fenstern. In jedem Blütenblatt steht eine gute Eigenschaft des Kindes, dem die Blume gehört – etwa lustig, klug, schnell, freundlich.

« Ich kann gut erlich sein », hat Danny auf seinem Bogen notiert, und: « Ich kann gut kempfen. » Kämpfen, ist das etwas Gutes? Danny nickt energisch. Seine Klassenkameradin Samsu kann gut rennen, schwimmen, schreiben und lesen. Ihre Talente hat sie mit Herzen und Sternchen verziert. Im abschließenden Sitzkreis darf jeder, der will, seine Stärken laut den anderen vortragen. Um halb vier ertönt der letzte Gong des Schultags. Die Glücksstunde hat 90 Minuten gedauert.

Die Vigelius-Grundschule ist eine verpflichtende Ganztagsschule, für Resilienzkurse ist genug Zeit im Schulalltag. Jede Glücksstunde wird mit Materialien vorbereitet, die das Forscherteam um den Freiburger Hochschulpsychologen Klaus Fröhlich-Gildhoff für das Projekt erstellt hat. Abrufbereit liegen die Unterlagen für die Lehrer im Regal. Da wird etwa Stressbewältigung mit einer spielerischen Entspannungsübung geübt: Die Kinder bedecken sich mit Bierdeckeln – die in den nächsten zehn Minuten nicht herunterfallen dürfen. Daneben gibt es Angebote wie « Ringen und Raufen », einen Jiu-Jitsu-Kurs, und Besuche auf dem zwölf Kilometer entfernten Bauernhof. Manche Schüler setzt Stefanie Schopp hier sogar auf ein Pferd, « das fördert die Balance », sagt die Sozialabeiterin, « und das Selbstvertrauen ».

Denn wer ein Pferd lenkt, spürt ganz buchstäblich seine Kraft, ein anderes Wesen in Gang zu setzen. Diese sogenannte Selbstwirksamkeit ist eines der Zauberwörter der Resilienzförderung: zu merken, dass man etwas bewegt.

Das kann eine halbe Tonne Pferd sein – oder sogar eine ganze Klasse: In manchen Unterrichtsstunden bekommen alle Kinder Triangeln, Flöten oder Trommeln. Reihum darf dann jeder einmal vorn stehen und das Klassenorchester dirigieren. « Wenn das Kind die Arme hebt, wird es laut », erzählt Schopp, « wenn es sie senkt, wird es mäuschenstill. » Den Takt vorgeben zu können – das ist Selbstwirksamkeit pur.

Im dritten Schuljahr werden die seelischen Kräfte auch außerhalb der Schule gestärkt, bei einem dreitägigen Hüttenaufenthalt. Die Tage, die die Klassen im Schwarzwald verbringen, helfen insbesondere auch ihren erwachsenen Begleitern. « Da entdecken wir oft verborgene Eigenschaften der Kinder », erzählt Schopp. « Etwa, dass jemand, der sich noch schwertut mit den Buchstaben, schon kochen kann. Oder wir sehen, dass ein schüchternes Kind ungeahnte Hilfsbereitschaft zeigt. »

Schule im herkömmlichen Sinne sei oft zu defizitorientiert, um seelische Stärke zu fördern. « Wir Lehrer betonen ja eher die Fehler », sagt Schulleiterin Maertins, « und nicht die individuelle Leistung. » Das soll an ihrer Schule anders sein – es zählen eben auch Qualitäten und Fähigkeiten der Kinder, die sich nicht in Noten messen lassen. Die Schüler selbst üben dazu immer wieder, sich selbst und anderen Komplimente zu machen.

Tanja Klepper hat in ihrer Klasse die Tradition der « Pelzchen » eingeführt: kleine Zettel, die sich die Schüler gegenseitig zustecken. Da stehen dann Dinge wie « Mia, du lächelst so schön ». Solche Wertschätzung ist eine Grundlage für Resilienz. Jeder Schüler hat eine selbst verzierte Schatzkiste, in der er die kleinen Liebeserklärungen sammelt. Anerkennung zum Anfassen bekommen die Vigelius-Schüler am Ende jeder Woche auch in Form von Stempeln oder Kulis. Sie erhalten diese Preise, wenn sie sich an die Regeln gehalten haben – niemandem wehtun, niemanden beklauen.

Die Freiburger Forscher haben das Projekt in den ersten zwei Jahren wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Ein Ergebnis: Die Lehrer achteten nach dem Training « grundsätzlich deutlicher » auf die Stärken der Schüler. Positive Entwicklungen konnten die Wissenschaftler aber vor allem bei den Kindern selbst messen: Gewonnen hatte sowohl deren Selbstvertrauen wie ihr « Selbstkonzept » – und zwar auf allen Ebenen, kognitiv, körperlich und sozial. Sie waren « offener für Neues » – eine Voraussetzung für das Lernen selbst. « Unsere Kinder sind intelligenter geworden durch das Resilienztraining », sagt Gretel Maertins. « Darauf deuten die ersten Forschungsergebnisse hin – und das erleben wir auch so. »

Die Schule versucht auch, die Eltern in die Förderung einzubinden. Die Resonanz auf das Kursangebot ist bisher aber dürftig. « Zu den Elternabenden kommen bei uns auch längst nicht alle », sagt die Schulleiterin, « das ist ja das Problem, dass die Kinder zu kurz kommen, wenn ihre Eltern Probleme haben. »

Zwei Mütter, die diese Kurse besuchen, schwärmen vom Resilienzkonzept. Etwa Christine Kouroghli: Sie versucht jetzt, ihrem Sohn Amin nicht immer gleich Probleme abzunehmen, sondern ihn geduldig selbst die Lösungen finden zu lassen. Ihrem Mann, der aus Marokko stammt, kann sie diese behutsame Vorgehensweise nur schwer verständlich machen. « Er ist ja ganz anders erzogen worden », sagt sie entschuldigend.

Alexandra Dörr hat sich ebenfalls dabei erwischt, ihren Sohn eher zur Unselbstständigkeit zu erziehen. « Ich habe Felix immer gleich gesagt, was er machen muss, wenn er mit einem Problem ankam. Jetzt frage ich viel öfters: Was würdest du denn machen? »

Kürzlich hat das zu einer wundersamen Wendung geführt. Der Zweitklässler war niedergeschlagen nach Hause gekommen: Er hatte eine Strafarbeit aufgebrummt bekommen, weil der Musiklehrer gesehen hatte, dass er auf einer Klangröhre lag. Dass Felix dorthin geschubst worden war, hatte er nicht gesehen. Die Erklärung des Jungen wollte er auch nicht hören.

Zu Hause weinte Felix bitterlich. « Was willst du tun? », fragte seine Mutter. Er schniefte und grübelte. Dann sagte er: « Ich gehe morgen zum Lehrer und rede mit ihm. »

Das Ergebnis verblüffte die ganze Familie. « Der Lehrer hat sich bei mir entschuldigt », sagt Felix. Etwas Schöneres sei ihm in der Schule noch nie passiert.


Dieser Artikel stammt aus SPIEGEL Wissen 1/2015. Wir haben ihn auf Spiegel online gefunden.

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