Welche Eltern kennen sie nicht, die Themen « Kinderschlaf » und « Einschlafen »? Kinderschlaf kann so vieles sein: einfach nur « süss », wenn es so aussieht, wie in der einschlägigen Windel-Werbung (der Nachwuchs schläft wohlig, trocken und tief, lächelt vielleicht auch noch im Schlaf und wacht bestimmt erst dann auf, wenn auch die Eltern schon wieder ausgeschlafen und frisch geduscht sind.). Ein Moment der Entspannung. Für alle? Für die Eltern, die vor dem Kind eingeschlafen sind? Kompliziert? Eine Messlatte elterlichen Erfolges? Letzteres sollte es ganz bestimmt nicht sein. Schlafen und « zu-Bett-bring-Rituale » sind individuell und jede Familie findet für sich bestimmt die Art, die am besten zu ihr passt. Was wir sicher sagen können: ob ein Kind alleine einschläft, durchschläft oder alleine wieder einschläft, ist bestimmt kein Leistungsausweis erfolgreicher Elternschaft oder eine « Qualifikation » des Kindes.
Markus Deggerichs Kolumne « Kein Kind muss schlafen lernen« , die gerade auf Spiegel online erschienen ist, spricht uns da völlig aus dem Herzen. Ein Plädoyer für mehr Gelassenheit, Nähe und ganz viel Zuneigung und Liebe.
Über kaum ein anderes Thema können Eltern so leidenschaftlich streiten wie über den Schlaf ihrer Kinder. Ich als fünffacher Vater finde: Es ist doch ganz einfach.
Um diesen Text zu schreiben, bin ich um 20.30 Uhr noch mal aufgestanden, obwohl es gerade gemütlich war im Bett von Kind 3 (10 Jahre). Vorher hatte ich Kind 5 (2 Jahre) ins Bett gebracht. Er schläft in seinem kleinen Bett, das neben dem großen seiner Eltern steht. Ich lege ihn hin, schalte sein Nachtlicht an, lege mich auf unser Bett, wir betrachten die Sterne an der Zimmerdecke und unterhalten uns in seiner Sprache über den Tag. Parallel begleitet meine Frau Kind 4 (4 Jahre) in den Schlaf mit Vorlesen, Singen, Kuscheln. K3 darf in der Zeit meist noch was « glotzen », wie es sagt. Kind 2 (13 Jahre) ist ohnehin in seinem Handyparalleluniversum versunken oder in einem Buch oder in seiner aktuellsten Lieblingsserie.
K5 ist beim Einschlafen redselig. Wenn wir uns ausgequatscht haben oder ich merke, dass er mit mir « Endlosschleife » spielt, singe ich noch ein bisschen: Wobei er deutlich merkt, ob ich motiviert bin und gegebenenfalls applaudiert oder ein anderes Stück verlangt: « Nissss Lalelu! » Lieber: « Sterne ». Oder: « Sandmann ».
Mal schläft er zuerst ein, mal ich. Manchmal warte ich, bis er schläft, manchmal gehe ich nach dem Gespräch und dem dritten Lied raus. Ich schleiche mich nicht davon, ich sage « Gute Nacht, ich hab’ dich lieb » und gehe. Oft fragt er noch: « Was massst Du? » Dann schummle ich nicht und behaupte: « Muss kurz auf’s Klo, komme gleich wieder ». Oder so. Ich sage einfach die Wahrheit: « Ich bringe S. noch ins Bett ». Oder: « Ich gehe zu Mama ». Oder: « Ich räume die Küche auf ». Das reicht ihm. Meistens. Jedenfalls darf ich rausgehen, ohne dass er protestiert, weil er weiß und erfahren hat, dass wir wiederkommen, wenn er uns braucht.
Dann gehe ich zu K3, das immer hofft, dass ich bei K5 schon mit einschlafe, damit es länger « glotzen » kann, und wir starten unser Ritual: Zusammen im Bett liegen, über den Tag reden, ein bisschen rumalbern und dann zusammen schmökern. Abwechselnd lesen wir uns vor aus demselben Buch. Zurzeit ist es Momo von Michael Ende. Ich dachte, das passt in die Corona-Phase – wegen der gefühlt gestohlenen Zeit.
Ist es gestohlene Zeit? Ist es verschenkte Zeit? Ist es gar vergeudete Zeit?
Ich bin jetzt 50 und bringe seit 15 Jahren Kinder ins Bett, fast jeden Abend, zwischen einer und zwei Stunden braucht es, je nach Stimmung, je nach Konstellation, nach Lage der Dinge wird das noch circa acht Jahre lang so bleiben. So viel Lebenszeit. Manchmal bin ich verzweifelt. Meistens aber froh.
Wie viel Zeit hätte ich gewonnen, wenn die Kinder einfach allein ins Bett gingen oder sich ohne viel Drumherum hinlegen ließen? Ein bis zwei Stunden täglich für 23 Jahre. Wäre es also nicht ein lohnendes Investment in meine Lebenszeit, wenn alle « schlafen lernen »?
Wir haben am Esstisch wartende Freunde brüskiert, wir haben Konzertanfänge verpasst, wir haben Verabredungen abgesagt oder verschlafen, wir haben Theater und Kino gecancelt, wir haben uns als Paar oft gar nicht mehr gesehen am Abend. Weil wir unseren Kindern das Schlafen nicht « beigebracht » haben, sondern gern mit ihnen einschlafen.
Und wir würden es immer wieder so machen. Für uns gehören diese Momente zwischen Wachen und Schlafen, in denen wir beieinander liegen, zu den schönsten, intimsten mit der größten Nähe und Transparenz. Es ist Qualitätszeit mit Ruhe, Zeit füreinander, in der wir uns kennenlernen, verstehen und vertrauen.
Als ich noch wochenweise Alleinerziehender von drei Kindern war, lagen wir abends zu viert auf einem Matratzenlager. Jedes Kind durfte sich eine « Rolle » in der zu erfindenden Gute-Nacht-Geschichte wünschen, und dann erlebten wir Abenteuer mit ihnen als Stars.
K3 wollte danach im Arm schlafen und K2 schob seine langen Beine unter meine zum Wärmen. So gefangen schlief ich eigentlich immer mit ein. Bis heute zehren die drei inzwischen Großen davon, sie erinnern sich nicht nur an die Geschichten, sondern vor allem: das Gefühl. Die Nähe. Die Gemeinsamkeit. Selbst mein gewaltiges Schnarchen, sagen sie heute, war für sie keine Last, sondern ein beruhigendes Signal: Da ist er ja.
K2 (13 Jahre) bringe ich schon lange nicht mehr ins Bett, seit es pubertiert, hat es ein eigenes Zimmer. Im Winter war ich mit ihm und K3 (10) allein im Urlaub, wir teilten uns ein großes Bett im Hotel. Und als wir da einschliefen, schob es automatisch seine Beine unter meine Füße, um sie zu wärmen, wie all die Jahre zuvor, als es klein war. Und wir guckten uns an, mussten lachen und waren beide gerührt.
Sollte das alles sein, was es jemals erinnert aus seiner Kindheit: Ich wäre glücklich.
Kürzlich fragte mich K2: « Wann hast du eigentlich aufgehört, mich ins Bett zu bringen? » Und ein wenig klang es für mich so, als wollte es nicht wissen « wann? » – sondern: « warum? » Jedenfalls gehe ich seitdem jeden Abend spät auch bei ihm wieder ins Zimmer, unter dem Vorwand, von ihm hören zu wollen, wann es zu schlafen gedenkt, ob die Schultasche gepackt sei, das Rollo unten sei. Elternausreden halt. Aber es soll ein Angebot sein: Du kannst noch erzählen, fragen. Dein Bein, deine Gedanken bei mir unterschieben.
K2 ist eine Schlafexpertin, zeichnet ihre Schlafphasen auf mit einer App, deutet Träume. Und wenn Klein-K5 ruft, ich aber nicht gleich zu ihm kann, weil ich vielleicht allein bin und noch mit K4 oder K3 beschäftigt bin, dann geht sie zu ihm. Manchmal schleicht K3 nachts zu K2, manchmal zu uns, fast jede Nacht kommt K4 ins Elternbett getrappelt, K5 wechselt spätestens morgens rüber auf unsere Matratzen, oft penne ich bei K3 ein und werde noch von der besten Frau der Welt zugedeckt, vor zwei Wochen wollte K5 mit K4 zusammen einschlafen und sie haben sich gegenseitig in den Schlaf geholfen.
K-Verwirrung? Bei uns auch – wir sind Schlaf- und Nachtwandler, ein nächtliches Netz der Nähe, die jeder sucht und jeder gibt.
Betten sind für alle da
Die Corona-Zeit hat für uns betont, wie wichtig diese Empathie ist – nicht nur, aber besonders beim Einschlafen. Eine Zeit der Verunsicherung, der Maskerade, für alle ungewohnt, wir waren aufeinander angewiesen, wie schon lange nicht mehr. Schlaf ist die Zeit der Wehrlosigkeit, sich da hineinzubegeben braucht: Vertrauen. Und wo Worte fehlen, weil wir auch keine gültigen Antworten haben, da hilft das Gefühl: Wir sind füreinander und für euch da.
Warum ich das alles erzähle? Weil ich es als Kind genau andersrum erlebt habe. Weil ich weiß, wie sich Einsamkeit anfühlt, als Kind, allein im Bett. Ich wurde zugedeckt, sollte beten, musste die Hände über die Bettdecke packen und wurde allein gelassen: mit den Schatten an der Wand, den Geräuschen am Fenster, den Ängsten in mir, der Sehnsucht. Manchmal legte ich mich nachts vor das Bett meiner Eltern, nicht in ihr Bett, das hätten sie gemerkt und mich wieder hochgetragen. Ich lag dort wie ein Hund, der bettelt.
Meinen Bruder hatten sie schon als schreiendes Baby ins Nebenzimmer geschoben und die Tür geschlossen, da sollte er sich « in den Schlaf weinen ». Das erinnert mich an die Methode, die viele Jahre später als Bestseller wieder in mein Leben trat: Dreimal bekam ich das Buch « Jedes Kind kann schlafen lernen » geschenkt – und habe es dreimal weggeschmissen. Nicht zurückgegeben oder auf dem Flohmarkt weiterverkauft. Ich wollte sicher sein, dass zumindest diese Exemplare definitiv aus dem Verkehr gezogen werden.
Wir hatten kürzlich an dieser Stelle ein Interview mit der Autorin dieses Buches, das unter Leserinnen und Lesern und auch in der Redaktion zu vielen Diskussionen führte. Ich maße mir nicht an, irgendjemand Erziehungs-Empfehlungen zu geben. Ich habe jedes Verständnis für verzweifelte und übernächtigte Eltern. Ich mag nur erzählen, wie es einem fünffachen Vater und Bruder von vier Geschwistern damit geht.
Der Erfolg dieses Buches gründet meines Erachtens nicht auf der dort propagierten Methode, sondern auf dem Titel: Der verschiebt die Verantwortung zum Kind. Als sei Schlaf eine Kulturtechnik wie Lesen, Schreiben und Rechnen, die man nur genug üben müsse, um Erfolg zu haben.
Überhaupt: Was soll das sein, Erfolg, wenn es um Schlaf geht? Ist das Kind zu doof, wenn es nicht einschläft? Die Eltern ungebildet?
Du, Kind, wimmerst, stehst immer wieder auf, kommst raus, weil ich die Tür schließe? Dann entscheide dich, zu schlafen – und ich lasse die Tür offen.
Das ist, mit Verlaub, keine Pädagogik, das ist nur eins: Erpressung. Und Missbrauch von Macht.
Schreien, Weinen, Wimmern ist Kommunikation. Für kleine Kinder die einzig mögliche. Diese Kommunikation zu verweigern, ist Ablehnung, nach meinem Verständnis nah an der Misshandlung. Um die Kommunikation meiner Kinder zu verstehen, muss ich sie verstehen, ich verstehe sie nur, wenn ich sie kenne. Und für mich sind diese Momente beim Einschlafen mit die wichtigsten, um sich kennenzulernen, verstehen zu lernen, verbal und nonverbal. Mit Versuch und Irrtum, klar, aber mit dem klaren Gefühl und Signal: Ich bin für dich da. Ich höre dir zu.
Als meine Frau zum allerersten Mal bei mir übernachtete, wollte ich nicht einschlafen. Ich wollte sie die ganze Nacht nur ansehen, anfassen, riechen, spüren. Wir haben stundenlang einander zugewandt gelegen und uns angesehen, ohne zu reden. So haben wir uns verstehen gelernt. Ich erinnere diese Nacht tausendmal mehr als verrückten Sex mit ihr an verrückten Orten. Sie kann bis heute jeden stillen Seufzer, selbst mein Atmen, deuten. Sie weiß sofort, wie es mir geht.
Ich bin überzeugt, dass das, diese Liebe, zwischen Eltern und Kindern auch funktioniert. So, wie meine Frau bis heute Sekunden früher aufwacht als unser Jüngster, ihn sofort hört und versteht. Was für eine Magie! Was für eine Verbindung! Was für eine Liebe! So, wie bei stillenden Müttern manchmal die Milch einschießt, bevor das Kind erwacht. (Wir Männer sollten Stillende anbeten. Oder wenigstens Suppe kochen. Und ewig dankbar sein).
Ich bilde mir ein, dass ich bei meinen Kindern irgendwann unterscheiden konnte, ob sie aus Langeweile, Hunger, Schmerz, Einsamkeit, Protest oder als Grenztest weinen.
Was verpasse ich denn, wenn ich Kinder ins Bett bringe?
Dass sie beim Einschlafen dramatisieren und erpressen können, wissen, welche Knöpfe sie drücken müssen, sich auch reinsteigern können, damit wir springen? Keine Frage. Müssen wir dem immer nachgeben? Nein. Aber wir müssen verstehen, dass dahinter ein Bedürfnis steht, das wir vielleicht nicht immer befriedigen, aber kennen müssen. Dieses Verständnis braucht Zeit. Das kann man lernen und es ist an uns als Eltern, das zu lernen. Und es geht auch viel schneller, wenn Kinder nicht das Gefühl haben, die Eltern würden irgendwas erzwingen wollen.
Was verpasse ich denn, wenn ich Kinder ins Bett bringe? Eine Netflixserie? Gute Zeiten, schlechte Zeiten? Sex auf dem Sofa? Okay stimmt, aber sind wir nicht sowieso schon müde? Den nächsten Sieg von Bayern München? Das Buch des Jahres? (Ist auch nächstes Jahr noch lesbar.) Einen Kneipenabend? Schwitzende Körper in der Muckibude? (Bessertrainierte deprimieren mich nur.) Faceinstatwitterbook? Eine Konferenz? Eine Kolumne? Einen Kinobesuch?
Und sollte es wirklich um die Zeit gehen: Bitte, glauben Sie mir, letztlich geht diese Zeit, in der Sie Ihre Kinder in den Schlaf begleiten, so wahnsinnig schnell vorbei. Sie werden es, im Rückblick, länger vermissen als beklagen. Es gibt kaum ein schöneres, friedlicheres Bild als das von dem mir völlig vertrauenden, entspannten, grunzenden, sich räkelnden Kind neben mir.
Weil es doch am Lebensende genauso ist wie am Anfang: Hoffen wir nicht, dass sich jemand zu uns legt, wir reden, über das, was passierte, dass wir unsere Lieblingsmusik hören, dass wir Geschichten erzählen, uns spüren, zuhören, kuscheln, ansehen, nicht allein sind, dass wir das Vertrauen haben, loslassen zu können. Dass wir unser Bein bei jemandem unterschieben, der bei uns ist, der uns liebt, bevor der große, ewige Schlaf beginnt.
Kein Kind muss schlafen lernen.
Quelle: gefunden und für grossartig befunden in der Elternkolumne von Spiegel online. Dieses Mal die Kolumne von Markus Deggerich.