Remo Largo ist tot. Seine Bücher « Babyjahre » und später « Kinderjahre » prägten ganze Elterngenerationen. Er wird fehlen.
Im Tagblatt würdigt der Autor und Liedermacher Linard Bardill seinen langjährigen Freund:
«An der Welt kann einer verzweifeln», sagte mir Remo Largo an einem meiner letzten Besuche. War er aufs Alter ein Griesgram geworden, der die Hoffnung auf eine andere, bessere Welt aufgegeben hatte? Das fragte ich erst mich und dann ihn.
«Nein, wer verzweifelt, nimmt sich selber zu wichtig», antwortete er mir. Er habe sich nie für wichtig genommen. Aber für die Eltern, denen er mit seinen in millionenfacher Auflage erschienenen Büchern Hoffnung und Klärung in ihren Erziehungsnöten gebracht habe, für diese Eltern sei er wichtig gewesen, insistierte ich.
Wenn jeder das tue, was er liebe und was er könne, dann werde die Welt eine andere.
Remo Largo ist ein Star. Seine Bücher verkaufen sich in ganz Europa. Er gilt als eine Koryphäe auf dem Gebiet der Entwicklungsforschung von Kindern und Jugendlichen. Generationen von Eltern hat er die Angst genommen, alles falsch zu machen.
Gleichzeitig war er bescheiden und sprach lieber vom Garten und von den Vögeln als vom Interview mit der «Zeit» oder dem Fernsehen.
Er wuchs in relativer Armut auf
Remo Largo wuchs in Winterthur in einer Familie mit grosser Verwandtschaft auf und empfand trotz relativer Armut die Kindheit als Paradies und die Schule als die Vertreibung daraus. Er übersprang das Schulelend mit Lesen. Ganze Bibliotheken habe er verschlungen. Er sie immer neugierig gewesen und sei es heute noch.
Als er nach zahlreichen Auslandsaufenthalten in England, Holland und Kalifornien in die Schweiz zurückkam, bot man ihm an der Universitäts-Kinderklinik in Zürich die Leitung der Forschungsstelle für die 2. Zürcher Longitudinalstudie an.
27 Jahre erforschte er die Entwicklung bei mehr als 900 Kindern von der Geburt bis ins Erwachsenenalter hinein und dokumentierte sie.
Was dabei herauskam, war erschreckend einfach:
- Alle Kinder entwickeln sich nach einem gemeinsamen Ablauf und einem Zeitplan, doch dieser Zeitplan ist bei jedem Kind anders.
- Jedes Kind hat Fähigkeiten, doch über diese Fähigkeiten hinaus kann man es nicht prügeln oder coachen. Das einzige, was aber möglich ist: durch Druck und Erwartung und Ungeduld kann man ihm seine Fähigkeiten zerstören.
Musik und Bewegung waren Largo enorm wichtig, Noten lehnte er bis zur 6. Klasse ab. Hausaufgaben hielt er für Mumpitz. Es gehe 90 Prozent um die Beziehung zum Kind, Büffeln bringe nur die Erfahrung, dass man keine Zeit zu spielen mehr habe, keine Zeit für die Begegnung mit den anderen Kindern.
Haben diese Erkenntnisse wirklich in unsere Schulen Einlass gefunden?
Manchmal war er zornig – auf die Politiker und anderes
Man kann verstehen, dass Remo Largo manchmal zornig sein konnte. Auf die Politiker, die Über-Akademisierung und den Wohlstand, den er für das Gegenteil des Wohlergehens hielt.
Als Unterstützer und Initiant von verschiedenen pädagogischen Neustarts wie auch für die freie Schulwahl begab sich Remo aus der Komfortzone des universitären Betriebs und setzte sich für etwas ein, das von vornherein zum Scheitern verurteilt schien: Selbstorganisierendes Lernen, lustvolles Kennenlernen der Welt nach eigener Fasson. So etwas ist wohl für uns Schweizer unvorstellbar
Kein Wunder ist so ein Mensch radikal. Schliesslich ging er mit seinen Studien und seinen mehr als 100 Publikationen immer an die Wurzel des menschlichen Daseins.
Aus der wissenschaftlichen Erkenntnis wurde eine politische Forderung: Das Kind soll seine Grundbedürfnisse leben können. Dazu gehören: körperliche und seelische Unversehrtheit, soziale Anerkennung, die Möglichkeiten, seine Talente ausleben zu können, Leistung zu erbringen, Geborgenheit zu erfahren. Nur ein Bildungssystem, das diese Grundbedürfnisse garantiere, habe das Recht zu erziehen.
Im Alter von 70 schritt er zu seinem grossen Werk
Nachdem er für alle drei Altersstufen dieses Austarieren und Erfahren der Grundbedürfnisse, das er als «Fit-Prinzip» bezeichnete, erforscht und dargelegt hatte, schritt Remo Largo, bereits 70-jährig, zu seinem grossen Werk: «Das passende Leben.» Er übertrug die Erkenntnisse seiner Forschung mit Kindern auf die grosse Welt. Das Buch war ein grosser Erfolg und ein Anstoss zur Diskussion in ganz Europa.
«Stell dir vor, die Menschen könnten ihre Talente entfalten, ihre Grundbedürfnisse ausleben und sich ihrer Vorstellungen bewusst werden, es wäre das Ende von Krieg und Gewalt, von Armut und Ausbeutung, eine Revolution!», sagte er mir bei unserem letzten Zusammentreffen.
Er sei nicht verzweifelt, aber müde. Und er sehe, dass wieder neue Menschen nachkämen, die Jungen, die für das Klima einstehen und Jungunternehmer, die Kreislauf Wirtschaft und Suffizienz ausprobierten. Er traue es ihnen mehr zu als unserer Generation, vom Grundeinkommen bis zur Rettung der Biosphäre.
Als ich ihn verliess, lächelte er. Nein, Griesgram sei er keiner geworden, meinte er, aber müde. Und dankbar, ein so volles und wundervolles Leben gehabt haben.
In der Nacht auf Donnerstag ist Remo Largo im Alter von 76 Jahren gestorben.
Quelle: wir haben diesen Text von Linard Bardill im Tagblatt gefunden.