Augenblick, verweile doch…

Es gibt Momente, die sollten Eltern in den Langzeitspeicher saugen. Denn sie entschädigen für alle stressigen Homeoffice-Tage und schreien: Wie konntest du denken, dein Leben sei trist?

Von Jens Radü, gefunden in der Elternkolumne auf Spiegel Online.

Es gibt Momente, die sollten Eltern in den Langzeitspeicher saugen. Denn sie entschädigen für alle stressigen Homeoffice-Tage und schreien: Wie konntest du denken, dein Leben sei trist?
Sie ist ausgezogen. Gestern Nacht. Dass das irgendwann mit 19 passiert, damit hatte ich ja gerechnet. Aber mit zweieinhalb? Immerhin ist sie nur zwölf Meter Luftlinie entfernt. Und wenn ich das Tapsen nackter kleiner Füße auf dem Parkett gerade richtig deute, scheint das für sie eher so eine Art On/Off-Arrangement zu sein.
Sie haben es erraten, oder? Elisa schläft jetzt im eigenen Bett, im eigenen Zimmer. Waaaas, erst mit zweieinhalb, schreien Sie mir in die Kommentarspalte, was ist denn da schiefgelaufen? Tja, das Leben, Corona, Vollmond, ich könnte Ihnen jetzt ein Dutzend Pauschalgründe herunterleiern. Oder ehrlich sein: So richtig ernsthaft mit Nachdruck und Dschingis-Khan-Attitüde haben wir das mit dem eigenen Bett bisher gar nicht versucht. (Lesen Sie hier, was mein Kollege Markus Deggerich in seiner Elternkolumne zu diesem Thema schreibt: Kein Kind muss schlafen lernen.)

Und warum nicht, fragen Sie? Ach, wo fange ich an: Sonntagmorgen, ein kleiner speckiger Arm legt sich um meinen Hals und eine Zweijährigen-Falsett-Stimme kräht mir ins Ohr: »Papa, die Bäume sind schon alle wach, aufstehen!« Wer könnte da widerstehen?

Und so geht es mir in vielen Situationen, in denen ich am liebsten die Pause-Taste drücken würde. Klar, Corona mit drei Kindern, Homeschooling, Arbeitsblätter-Regen und Bauklötze stapeln mit Laptop auf dem Schoß, … – aber für jeden Moment, den ich am liebsten aus meinem Tag radieren würde, gibt es eben mindestens drei, die von mir aus gern in eine Art Truman-Show-mäßige Dauerschleife gehen dürften. In denen ich denke: Das kommt nie wieder.

Was ich in meinem neuronalen Szenen-Album alles gesammelt habe?

  1. Kino, das erste Mal mit Oliver und Frederik, damals 5 und 7: Der Film hat keine Altersfreigabe, es geht um Hasen, im Allgemeinen und Speziellen, die Handlung ist ähnlich überschaubar wie die Anzahl wahrer Cineasten in diesem Kinosaal am Sonntagnachmittag. Oliver, mit einer unverhältnismäßig großen Tüte Popcorn auf dem Schoß, ist stolz wie Reinhold Messner nach einer Erstbesteigung. Und mindestens genauso aufgeregt. Ich greife in seine Popcorn-Tüte und denke an mein erstes Kino-Erlebnis, damals, auf der Insel Baltrum in einer umfunktionierten Turnhalle, Disney’s 101 Dalmatiner. Was für ein Sog-Moment damals, die große Leinwand, die Musik so laut, der Film hat mich verschluckt und 76 Minuten später wieder ausgespuckt, mit pochendem Herz und großen Augen. Wird es Oliver ähnlich ergehen? Auf dem Hinweg zum Kino tönte er noch, wie er allen Kita-Freunden von seinem ersten Kinofilm erzählen würde, wetteiferte mit Frederik, wer mehr Popcorn essen könne, schon so erwachsen. Und jetzt? Nach Minute elf – der Bösewicht ist gerade aufgetreten – klettert Oliver auf meinen Schoß. »Ist es dir zu gruselig?«, flüstere ich. Oliver nickt. Und bleibt auf meinem Schoß sitzen, den ganzen Film über.
  2. Es ist Sommer, 15.58 Uhr, kurz vor knapp: Ich hole Elisa von der Kita ab. Es ist schon viel zu spät und mein Gott, ist das heiß hier. Warum muss ich ausgerechnet heute mit dem Auto gefahren sein, jetzt Stau, leichte Wut kommt auf, Teufel, dein Name ist Straßenverkehr. Im letzten Moment quietsche ich auf den Parkplatz, hetze zur Gartentür der Kita, einen nicht jugendfreien Fluch auf den Lippen. Doch als ich gerade aufsehe, hüpft Elisa vom Schoß der Erzieherin, die neben dem Sandkasten im Schatten sitzt, und läuft mit selbstvergessenen Lachglucksern, die wohl nur Zweieinhalbjährigen vorbehalten sind, in Hopserschritten auf mich zu, die Arme ausgebreitet. Es wäre der Moment, in dem Hollywood auf Slowmo schalten würde, unterlegt mit Klaviermusik in Cis-Dur. Ich gehe in die Hocke, breite meine Arme aus, Stau, Ärger, Wut, war da was, dieses kleine Wesen da, springt in meine Arme, ich wirbele sie rum und gebe ihr einen Kuss. Hach. Ein Moment zum Einrahmen.
  3. Es sind zwei Millimeter. Vielleicht auch drei. Aber die Jungs sind nicht aufzuhalten: »Schneeeeee!« Schneller als in diesen handgestoppten 14 Sekunden hat sich Oliver noch nie Jacke und Schuhe angezogen und wie eine Rinderherde auf Koks bahnen sie sich den Weg durch den Flur in den Garten. Kurz wünschte ich, wir wohnten näher am Polarkreis, das würde so einige Babysitting-Engpässe überbrücken, da schallt es von draußen: »Karotte!« Natürlich. Die beiden haben alle verfügbaren Schneereste zusammengekratzt, daraus zwei Kugeln geformt und nun steht da ein Schneemann wie aus einem Bobo-Siebenschläfer-Bilderbuch. Nur eben noch nasenlos. »Foto!«, folgt der nächste Befehl aus dem Garten, ja doch, ich halte die Kamera schon bereit, muss mir nur eben das Auge trockenreiben, mir ist da wahrscheinlich irgendwas reingekommen. Oder so.
  4. Weihnachten, der Baum wartet mit mehr Bling auf als ein Gangster-Rapper, es könnte einem übel werden vor lauter Idylle. Elisa wirkt beseelter als ein rotbäckiges Christkind im Kitsch-Adventskalender, in der Hand ihr Liederbuch. In ihrem Wollpullover mit Rudolph-Rotnase postiert sie sich vor dem Weihnachtsstern und beginnt zu singen, ob Babysprache oder Klingonisch lässt sich erst nach der zweiten Zeile zweifelsfrei feststellen: »Stille Nacht, heilige Nacht«. Bei »Alles schläft« gleitet ihr Kleinkind-Sopran in Mariah-Carey-hafte Höhen, wenn auch etwas atonal. Aber mit der Routine eines Musical-Schlachtrosses pendelt sie sich am Ende der Strophe wieder ein und klappt das Buch vernehmlich zu. Ausdrücklich ungeeignet für Diabetiker, einfach viel zu süß.

So geht das jeden Tag: Pause-Taste, speichern – sind Sie sicher? Aber ja. Goethes Augenblick-verweile-doch sucht mich heim, wenn Elisa das erste Mal Fahrrad mit Pedalen fährt. Oder Oliver in seiner Seifenkiste juchzend den Hang hinunterschleicht (Wir müssen die Räder noch einstellen, von rasen kann hier keine Rede sein, aber hey, kommt es darauf an?). Oder wenn Frederik aus dem Schwimmbecken japst, wo er gerade Seepferdchen gemacht hat.

Das alles ist ebenso wundervoll wie schnell vorbei. Und kommt nicht wieder.

Szenen, die für alles entschädigen, was einem im Leben an Härten, Rauem und Kantigem begegnen mag. Und selbst wenn Sie es vielleicht im Augenblick selbst gar nicht merken: Seien Sie unbesorgt, selbst wenn Sie ihn nicht gleich finden – der Moment findet Sie.

Quelle: wir sind Fan der Spiegel Online-Elternkolumne, auf der wir auch diesen Beitrag von Jens Radü gefunden haben.

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