Eric Carle ist tot, die »Raupe Nimmersatt« machte ihn weltberühmt. Wir erinnern uns an zerlesene Kinderbücher, Widmungen des geliebten Opas – und an die große Philosophie, die der Kinderbuchbestseller transportierte.
Eine Würdigung der Spiegel-Redaktion.
Wieder und wieder vorgelesen
Das Exemplar der »kleinen Raupe«, das in unserem Bücherregal steht, ist angemessen zerlesen. Der Buchrücken abgeplatzt, die Ecken trotz der starken Pappe deformiert, das Cover fadenscheinig und fleckig. So sieht ein Buch aus, das wieder und wieder (vor-)gelesen wurde, an regnerischen Sonntagen und bei 30 Grad am Strand, als Gutenachtgeschichte und Gutenmorgenlektüre. Auch bei Eltern, die gern vorlesen, kann ja das Repetitive dieser Angelegenheit, wenn die Kinder wieder und wieder das gleiche Buch wünschen, zu Zuständen der Verzweiflung führen. Aber »Die kleine Raupe Nimmersatt« ist anders. Kürzer natürlich, gerade einmal 17 Sätze lang, darin liegt ja das Genie. Und dankbarer, weil es dem Kind unmittelbare Reaktionen entlockt: Das freudige Erschauern auf Seite zwei bei dem kleinen Wörtchen »Knack«, wenn die Raupe an einem warmen Sonntagmorgen aus ihrem Ei schlüpft. Das aufgeregte Mitsprechen der Obstsorten, die die Raupe sich einverleibt. Das ungeduldige Vorblättern klebriger Kinderhände zur letzten Seite, wenn sich endlich der Schmetterling zeigt. Dieser Prozess des lesenden Begreifens der Welt – er hat sich unserem Exemplar eingeschrieben. Es wird immer einen Platz in unserem Bücherregal behalten. Oliver Kaever
Neue Maßstäbe der Kinderbuchästhetik
Der Plot von Eric Carles ewigem Kinderbestseller – Raupe frisst sich durch die Welt, wie es ihr gefällt – reizte mich nie. Ein erzählerisch zu klar durchexerzierter Vorgang, die Schmetterlingspointe am Ende zu glatt. Aber ist die Geschichte nicht auch zweitrangig? Carles sorgfältig komponierte, großflächige Collagetechnik ist doch das eigentlich Spektakuläre. Sie verleiht allen seinen Figuren eine große Wärme, weil man ihnen buchstäblich die Gedanken ansieht, die in sie geflossen sind. In einem Interview mit dem »Guardian« nannte Carle mal Werke von Expressionisten wie Matisse, Klee und Picasso als prägende Erinnerungen, ein Kunstlehrer habe sie ihm während seiner Jugend in Nazideutschland heimlich gezeigt. Carles eigener Stil war immer von einer perfektionierten Klarheit. Neben Illustratorengrößen wie Leo Lionni (»Frederick«) setzte Carle nach Jobs in der Werbung und als Designer bei der »New York Times« Ende der Sechziger Maßstäbe für eine Kinderbuchästhetik, die gerade aus der Reduktion Wirkmächtigkeit schöpfte. Noch heute kann man in Werken jüngerer Illustratoren wie Chris Haughton (»Pssst! Wir haben einen Plan!«) Carles großem künstlerischen Einfluss nachspüren. Auf Twitter teilte Carle in den vergangenen Jahren immer wieder seine Illustrationen. Meine Empfehlung: Verlieren Sie sich heute mal zehn Minuten in diesem zauberhaften Feed. Eva Thöne
Eric, mein Opa und ich
Ich rezensiere heute Kinderbücher. Wer weiß – vielleicht wäre ohne dieses Buch alles anders gekommen. Für mich ist »Die kleine Raupe Nimmersatt« nicht nur ein geniales Kinderbuch. Es ist auch ein Stück meiner Familiengeschichte. Mein Großvater schenkte es mir im Sommer 1970 mit der Widmung: »Meiner süßen kleinen Agnes zur Freude! – Opa Lu«. Er wird es bei der Arbeit gesehen und an mich gedacht haben. Er arbeitete damals als Lagerist bei der Büchergilde Gutenberg und brachte ständig Bücher nach Hause. Lieber wäre er Lehrer geworden, aber einen Weg zu den Büchern hatte er so trotzdem gefunden. Ich bin ihm bis heute dankbar für das Geschenk und diese Widmung. Meine Ausgabe musste der Buchbinder mal von Schimmel reinigen, die Kritzeleien meiner kleinen Schwester Kathrin auf den Seiten dokumentieren ihr junges Zeichentalent. Die Raupe verbindet bis heute die ganze Familie, jeder hat es gern vorgelesen, und der Satz »…aber satt war sie noch immer nicht« kursiert sicher nicht nur bei uns. Der Sonnabend gefiel mir übrigens am besten. Alles lecker – bis auf das Früchtebrot. Agnes Sonntag
Eine kleine Metapher auf menschlichen Fortschritt
Wenn Seiten etwas nicht haben dürfen, dann Löcher. Die Seiten von »Die kleine Raupe…« haben Löcher. Die Seiten sind dick genug, sie auszuhalten, und diese Löcher führen auf folgende Seiten wie sinnliche Wurmlöcher in andere Dimensionen. Seite für Seite entfalten sich neue Rätsel, die auf nimmersatte Durchdringung warten. Die Raupe ist erst Ei unter einem freundlichen Mond, dann, im warmen Licht der Sonne, auf einmal in der Welt.
Die Welt dient dazu, ihren Hunger zu stillen. Hunger und Neugier auf die Welt sind hier identisch. Nach einer Reihe von Früchten, sozusagen raupentypischen Nahrungsmitteln, frisst sie sich durch Kuchen, Wurst, Lutscher, Käse. Eine kleine Metapher auf menschlichen Fortschritt überhaupt, aber auch auf die Grenzen des Wachstums und der Fülle dessen, was zu verbrauchen uns überhaupt zur Verfügung steht. Erst ganz zuletzt macht sich die Raupe über ein grünes Blatt her. Fast scheint es, als würde sie zur Besinnung kommen, zur Vernunft, sich bescheiden. Erst nach diesem Akt, der Hunger ist gestillt, erfährt sie eine identitäre Verwandlung. Was die Raupe war, ist jetzt Kokon. Was darin geschieht, ist das größte Rätsel. Und doch mündet die Geschichte in der metaphysischen Tatsache, dass aus dem Rätselhaften ein Schmetterling entsteht. Wer bin ich? Was will ich? Was darf ich hoffen? Und was kann ich sein? Kein Philosoph hat diese letzten Fragen jemals so elegant gestellt wie Eric Carle. Antworten darauf finden sich in keinem Buch, in keiner Bibliothek. Wir müssen ein Leben führen. Arno Frank
Quelle: wir haben diese Würdigung der Spiegel-Redaktion auf Spiegel Online gefunden.