Bestsellerautorin Kirsten Boie im Interview »Es ist falsch und naiv, Kinder vor allem bewahren zu wollen«

Ich bin Kirsten Boie-Fan. Wir haben « Der kleine Pirat » geliebt, haben später mit dem kleinen Ritter Trenk mitgefiebert und sind mit Seeräubermoses und Käptn Klaas zur See gefahren. Ach ja, und das Buch vom Angsthaben war über Jahre eine hilfreiche Referenz. Was soll ich sagen? Kirsten Boie gehört fast zur Familie.  Insofern waren die Freude über und das Interesse an dem Spiegel-Interview mit Kirsten Boie zum Thema Krieg und wie man mit Kindern darüber sprechen kann gross. Da es wie erwartet gut war, teilen wir es gerne hier.

Das Spiegel-Interview hat Heike Kleen geführt. Wir geben es hier nur wieder.

Wie spricht man mit Kindern über den Krieg? Welche Wirkung haben Bücher, und warum darf es auch mal heile Welt sein? Ein Gespräch mit der renommierten Kinder- und Jugendbuchautorin Kirsten Boie.

Zur Person

Kirsten Boie, 72, ist eine der renommiertesten deutschen Autorinnen der Kinder- und Jugendliteratur. Seit 1985 erzählt die promovierte Literaturwissenschaftlerin mit großem Erfolg Geschichten, darunter zahlreiche Reihen, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Für ihr Lebenswerk wurde sie 2007 mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet und erhielt 2011 das Bundesverdienstkreuz.

SPIEGEL: Frau Boie, Ihr aktuelles Jugendbuch »Heul doch nicht, du lebst ja noch« spielt kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs im zerbombten Hamburg – und hat jetzt eine traurige Aktualität. Wie geht es Ihnen damit?

Boie: Für mich fühlt sich das beinahe zynisch an. Die Kinder, von denen ich erzähle, haben viel Schreckliches erlebt und viel verloren – so wie die Kinder in der Ukraine heute. Aber wenn mein Buch Kindern hilft, besser mit diesen Ereignissen klarzukommen, ist es wiederum gut und richtig, dass es in diese Zeit passt. Die Idee zu dem Buch kam mir schon im Jahr 2020, zum 75. Jahrestag des Kriegsendes, als Bilder der zerstörten deutschen Städte gezeigt wurden. Ich bin 1950 geboren und habe in solchen Trümmern gespielt. Ich hatte Lehrer, die beinamputiert oder armamputiert waren, einer war vollständig verbrannt. Für meine Generation war es normal, dass Männer sogenannte Kriegsversehrte waren und Frauen und Kinder schreckliche Erinnerungen an die Bombardements hatten. Als ich Bilder aus der Zeit sah, dachte ich: Man muss darüber schreiben, dass der Krieg am Ende nur Verlierer produziert. Und dass selbst die Deutschen, die zu Anfang ganz Europa und Nordafrika überrannt haben, am Ende ganz furchtbare Verlierer waren.

SPIEGEL: Helfen Bücher Kindern dabei, die Realität besser zu verstehen?

Boie: Unbedingt, ich denke, das ist der Anspruch, den man als Kinderbuchautor haben sollte. Da gibt es verschiedene Bereiche, die einem beim Lesen verständlicher werden: andere Menschen, gesellschaftliche Zusammenhänge – und, was ich für besonders wichtig halte: Durch das Lesen versteht man auch sich selbst besser.

SPIEGEL: Viele Eltern versuchen, ihren Kindern Unangenehmes möglichst zu ersparen. Wie sollte man jetzt mit ihnen über den Ukrainekrieg sprechen?

Boie: Das ist altersabhängig und ganz unterschiedlich. Wenn Eltern ihr Kind kennen, wissen sie auch, was es abkann. Bei kleinen Kindern wäre ich sehr vorsichtig, aber ich würde nicht nichts sagen. Denn auch die kriegen aktuell irgendwo Bilder vom Ukrainekrieg mit. Denen kann man erzählen, dass es gerade ganz schlimm ist für die Menschen, die in der Ukraine leben, aber dass wir hier sicher sind. Das halte ich gerade bei kleinen Kindern, denen man politische Zusammenhänge nicht erklären kann, für das Wichtigste. Man sollte ihnen sagen: »Bei uns ist es sicher, du musst keine Angst haben. Und weil es bei uns sicher ist, kommen die Menschen aus diesem Land jetzt zu uns. Und jetzt müssen wir gucken, dass sie es bei uns auch gut haben und müssen ihnen helfen.«

SPIEGEL: Und was erzählt man größeren Kindern?

Boie: Viel mehr, denn wenn Kinder neun oder zehn sind, haben sie ein Bedürfnis, sich mit diesem Krieg auseinanderzusetzen. Und in der Pubertät verstärkt sich das noch. Die Haltung, Kinder vor allem bewahren zu wollen, ist naiv und falsch. Was wissen die Eltern denn, was ihre Kinder alles auf YouTube gucken? Man kann sie gerade heute überhaupt nicht mehr beschützen. Und das muss man auch nicht, aber man muss offen sein für das Gespräch, damit Kinder ein Problem ansprechen können – und dafür können Bücher ein Türöffner sein.

SPIEGEL: Zum Bürgerkrieg in Syrien haben Sie »Bestimmt wird alles gut« geschrieben, eine Flüchtlingsgeschichte aus Kinderperspektive mit arabischem und deutschem Text. Würde so ein Buch ukrainischen Kindern jetzt helfen?

Boie: Ich würde so etwas nicht noch einmal schreiben, und ich denke, dieses Buch hat deutsche Kinder mehr erreicht als geflüchtete. Aber man könnte mit diesem Buch aktuell arbeiten. Wer mit Grundschülern darüber reden will, wie es Kindern geht, die zu uns kommen, und was die zu Hause alles erlebt haben, kann man das auch mithilfe einer syrischen Fluchtgeschichte tun.

SPIEGEL: Welche Kinderbücher haben Sie in besonderer Erinnerung?

Boie: Ich habe leidenschaftlich gern »Fünf Freunde« gelesen, aber sie haben nichts in meinem Leben verändert. Bücher, die wirklich hängen bleiben, sind doch die, die auch ein bisschen wehgetan haben und nicht nur durchgerauscht sind. Solche Bücher – bei mir war das zum Beispiel schon ganz früh »Sternkinder« über jüdische Kinder in den Niederlanden oder ein Buch über die Apartheid – haben etwas gemacht mit unserer eigenen Haltung, unseren Einstellungen, unserem Blick auf die Welt. Sie haben eine größere Offenheit geschaffen für bestimmte Probleme. Und genau diese Bücher sollte man um Himmels willen nicht von Kindern fernhalten, sondern ihnen anbieten. Manchmal müssen Kinder beim Lesen weinen oder ganz viel nachdenken, aber das ist okay. Und wenn ein Buch das Kind oder den Jugendlichen überfordert, legt er oder sie es sowieso weg.

SPIEGEL: Ihre »Möwenweg«- und »Sommerby«-Reihen spielen in einer heilen Welt. Haben solche Bücher dieselbe Berechtigung wie schwere Kost?

Boie: Wenn ich Kindern das Schwere zumute, muss ich ihnen genauso erlauben, zwischendurch abzutauchen in eine heile Welt. Ich habe als Kind immer wieder »Wir Kinder aus Bullerbü« gelesen, sogar noch in der Nacht vor meinem mündlichen Abitur! Ich persönlich denke: Wenn Kinder sich mit heilen Welten auseinandersetzen und dadurch die Erfahrung machen: »So sollte die Welt eigentlich sein«, dann sind sie viel mehr gewillt einzugreifen, wenn sie erleben, dass die Welt nicht so ist. Wenn man immer nur von Schwierigkeiten liest, dann gehen einem irgendwann Kraft und Lust aus, etwas dagegen zu tun. Aber wenn man zwischendurch die Möglichkeit wahrnimmt, dass es auch eine schöne und idyllische Welt geben kann, kämpft man vielleicht dafür. Früher habe ich solche Bücher nicht so wertgeschätzt, ich habe immer die anderen Bücher für wichtiger gehalten. Und man sieht ja auch, dass solche Bücher keine Preise bekommen. Das verstehe ich einerseits, aber aufgrund der berührenden Reaktionen, die ich auf »Möwenweg« und »Sommerby« sogar von Erwachsenen bekomme, merke ich, wie wichtig solche Trost-Bücher sind.

SPIEGEL: Ihr aktueller Bestseller »Heul doch nicht« ist keine leichte Kost, dennoch erlebt einer der Protagonisten ein Happy End. Wie wichtig ist das für Kinder?

Boie: Ja, es ist eine Art von Happy End, dass Jakobs Mutter aus dem Konzentrationslager Theresienstadt zurückkommt. Ich denke, zumindest für Kinder muss am Ende immer irgendeine Hoffnung da sein. Bei Jugendlichen kann es auch schon mal anders sein. Aber ich muss gestehen, dass ich bei der Recherche zu diesem Buch selbst wahnsinnig erleichtert war, als ich las, dass fast alle Menschen, die mit dem letzten Transport von Hamburg nach Theresienstadt deportiert wurden, überlebt haben und zurückgekommen sind. Dadurch konnte ich Jakob seine Mutter wiedergeben – und es war gleichzeitig historisch korrekt.

SPIEGEL: Können Kinderbücher die Welt verbessern?

Boie: Ja, das würde ich sofort unterschreiben – ohne naiv zu sein. Bücher können Haltungen prägen. Sie können dazu führen, dass irgendwelche Dinge plötzlich völlig undenkbar sind, weil man sich beim Lesen mit jemandem identifiziert hat, dem man deshalb nichts Schreckliches mehr antun kann. Das bleibt für ein Leben. Bei einer Feier bin ich mal an einem Büfett mit drei Menschen ins Gespräch gekommen über das, was wir in unserer Jugend gelesen haben. Wir hatten alle dasselbe Buch über Albert Schweitzer gelesen – und die beiden Ärztinnen sagten: »Deshalb wollte ich überhaupt Ärztin werden!« Das ist ein ganz einfaches Beispiel dafür, dass Bücher die Welt verbessern – wenn das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt auf das richtige Kind trifft.

SPIEGEL: Und wie schafft man das?

Boie: Die Grundvoraussetzung ist, dass bei den Kindern eine echte Lesekompetenz vorhanden ist. Ganz viele Kinder können gar nicht so lesen, dass sie Spaß daran haben – und das macht mich richtig, richtig böse. Die TU Dortmund hat gerade eine Studie veröffentlicht über den Lesekompetenzverlust bei Grundschülern durch die Pandemie. Die Zahlen sind bedrückend, und das wird dramatische Konsequenzen für unsere Gesellschaft haben. Die Politik muss das Thema endlich wichtiger nehmen – sonst brauchen wir uns gar nicht zu fragen, ob Bücher etwas bewegen können. Das ist kein Vorwurf an die Lehrer, aber das kann sich ein Land wie Deutschland nicht leisten. Und jetzt müssen wir uns zusätzlich um die ukrainischen Kinder kümmern.

SPIEGEL: Sie wollten Chemikerin werden, nachdem Sie ein Buch über Marie Curie gelesen hatten – aber daraus ist nichts geworden.

Boie: Nein, denn das Arbeitsamt hat mir damals gesagt, dass Frauen nicht forschen können, sondern nur beim Forschen helfen. Dazu hatte ich keine Lust. Heute lachen wir darüber – und das ist das Positive daran: Es gibt historischen Fortschritt. Und es gibt moralischen Fortschritt. Das habe ich kürzlich bei einer Lesung in Köln erlebt vor ungefähr 300 Jugendlichen im Alter von 13 bis 15 Jahren. Da kam im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg die Frage: »Was können wir jetzt tun?« Ich habe gesagt: »Die einzige Möglichkeit ist, dass wir Putin wirtschaftlich in Schwierigkeiten bringen, sodass er mit dem Krieg aufhört. Aber das wird auch uns wehtun, alles wird teurer und manche Dinge werdet ihr euch nicht mehr leisten können, die für euch jetzt selbstverständlich sind. Aber nur so können wir das Leben der Menschen retten!« Und da fingen alle an, schweigend zu applaudieren. Das war eine ganz besondere Form von Applaus, die hieß: Genau so müssen wir das machen – und wir sind bereit dazu. Das fand ich großartig! Es ist eine ganz tolle Generation, die da gerade kommt.

Source: wir haben dieses Interview auf Spiegel online gefunden.

X