Ein Tag im Kopf eines Zweijährigen

Was denken sich Kinder nur dabei, wenn sie uns nachts nerven und tags die Wände beschmieren? Wenn wir ehrlich sind: Wir haben keinen blassen Schimmer. Oder? Jonas Ratz hat einen Tag im Kopf seines Sohnes simuliert.

Kinder sind manchmal wahnsinnig süß – und manchmal machen sie uns wahnsinnig. Für SPIEGEL ONLINE legten sich vor ein paar Jahren eine Mutter und zwei Väter regelmäßig auf die Elterncouch.

Jonas Ratz schrieb auf der Elterncouch im Wechsel mit Theodor Ziemßen und Juno Vai.

Wollten Sie schon immer mal wissen, was im Hirn eines Zweijährigen vorgeht? Ich auch. Leider habe ich keine Ahnung. Oft denke ich, eine fremde Spezies aus dem Andromeda-Nebel übernimmt zeitweise die Kontrolle über meinen Sohn Oliver. In anderen Momenten wirkt er wie Loriot und Charlie Chaplin in Personalunion. Wie gesagt, ich habe keine Ahnung, was im Hirn eines Zweijährigen vorgeht. Vielleicht das:

Nachts

« Wie spät es wohl ist? Dem Füllstand meiner Windel nach zu urteilen, schon zu spät. Waaaas? Schon 5.30 Uhr? Und noch kein Frühstück in Sicht? Ich werde mal Mama und Papa in ihrem Schlafzimmer aufsuchen, die freuen sich ja immer so, wenn ich unter ihre Decke schlüpfe, sie wegziehe und mich einwickle. Moment, ich nehm noch meinen riesigen Kuschelbären mit. Und ein Buch zum Vorlesen. Und mein Kissen. Und einen Schnuller. Besser zwei. Oh, jetzt ist einer runtergefallen… Ich fange jetzt besser an zu schreien, dann kommt Papa und hilft mir tragen. Papaaaaaaa! Hm. Hat er offenbar nicht gehört. Ich versuche es noch mal lauter: Paaaapaaaaaaaa!

Ah, das da vorne muss er sein. Sieht aus wie gestern Abend, nur müder. Und ich sag doch jeden Abend « Papa Bett? », wenn wir zusammen lesen. Papa liest ja so gerne vor. Ich mach da immer mit, auch wenn ich das Feuerwehrbuch inzwischen echt auswendig kann. Aber so sind Erwachsene eben, man muss sich auch auf sie einstellen können. Liest man ja in jedem Ratgeber.

So, jetzt erst mal eine gemütliche Liegeposition finden. Auf dieser Seite ist Mamas Bein im Weg, ich versuch mal, es mit meinen Füßen wegzudrücken. Und hier liegt Papas Arm, ich dreh mich mal um. Nee, ich dreh mich noch mal um. Neeee, so auch nicht, ich dreh mich noch mal um. Und noch mal. Und noch mal. Zwischendurch Bettdecke wegziehen. Und noch mal umdrehen. Mama stöhnt. Ich biete ihr mal meinen Schnuller an. »

Am Frühstückstisch

« Hmmmm, Marmelade. Ich verstehe nur nicht, warum Papa die gute Erdbeermarmelade noch auf einen Toast schmiert. Ich kann die doch einfach direkt löffeln. Ich persönlich bin ja ohnehin eher so der haptische Typ. Ich fasse gerne an, was ich esse. Und wenn ich mir meine Finger so anschaue, macht das mit roter Erdbeermarmelade besonders viel Spaß.

Diese geschmacklos weiße Wand hinter meinem Stuhl hab ich so ja schon oft dekoriert – leider zerstören Mama und Papa meine Spontankunst immer sofort. Banausen. Aber das Fingermalfarben-Kunstwerk, das ich gestern Abend an die Wand im Wohnzimmer gezaubert habe, haben sie ja noch gar nicht gesehen. Inzwischen dürfte die Farbe trocken sein. Miró trifft Paul Klee – und ganz viel Bibo aus der Sesamstraße. Bin gespannt, wie sie es finden. »

Morgens in der Kita

« Ach, Paula. Als du mir gestern verstohlen diesen roten Bauklotz rübergeschoben hast – ich weiß auch nicht, irgendetwas ist da passiert. Dabei hab ich dich nie wirklich wahrgenommen. Gut, bei der Schmausepause willst du mir immer was von deiner Banane andrehen. Banane! Ich ess doch grundsätzlich nichts, was nicht mal vier Beine hatte. Aus religiösen Gründen übrigens. Und im Sandkasten, als ich dir die rote Schippe mit den Noppen weggenommen habe, bist du gar nicht zu Vera gelaufen, um zu petzen. Im Gegenteil, du hast mich mit deinem rosa Schnuller im Mund angesehen, mit diesem Blick, der so viel sagen könnte, irgendwie sehnsüchtig, aber irgendwie auch fordernd.

Ich bin in solchen Situationen schnell unsicher. Du musst verstehen, ich bin eher so der Typ einsamer Wolf. Keine festen Bindungen, weißt du. Die Eltern, die Spiel-Küche, die Fingerfarben – da bleibt einfach wenig Zeit für Beziehungen. Und dann auf einmal der rote Bauklotz. So aus dem Nichts. Ach Paula. Ich wünschte, wir könnten miteinander reden. Aber dafür müssten wir ja unsere Schnuller rausnehmen… »

Nachmittags im Supermarkt

« Gut, dann kriegt Papa eben auch einen eigenen Einkaufswagen. Ich verstehe zwar nicht ganz, wieso, schließlich würden in meinen bunten mit der Fahne doch locker alle wirklich wichtigen Sachen reinpassen: die Kekse, die Wurst und, na ja, das war es eigentlich. Aber was Papa da immer alles kauft – der hat echt ein Messie-Problem. Ich sag noch: Hey Papa, konzentrier dich auf das Wesentliche, kaufe nachhaltig, ja? Denk an die Welt, die du mir hinterlassen willst. Und trotzdem kauft er wieder Klopapier und Spülmaschinentabs. Und? Kann man die essen? Nein. Und mir können Sie es glauben, ich hab es versucht. Ich sehe es schon kommen, am Ende muss ich an der Kasse wieder anfangen, die ganzen unnützen Sachen aus dem Einkaufswagen rauszusortieren. Immer das Gleiche. »

Abends im Kinderzimmer

« Schon wieder das Feuerwehrbuch. Na, wenn’s Papa Freude macht, ich spiel mit. Ist ja für die parentale Entwicklung total wichtig, dass er auch geistig fit bleibt. Nicht, dass er frühzeitig dement wird und mir nicht mehr bei den Mathehausaufgaben helfen kann. Obwohl – Mathe? Mein Papa? Na ja. In Kunst wird es ohnehin schwierig. Als Papa gerade mein Fingermalfarben-Kunstwerk im Wohnzimmer gesehen hat, ist er ganz bleich geworden.

Er sollte definitiv mehr nach draußen gehen, er wirkt oft so fahrig. Aber auf mich hört er ja nicht. Ist halt auch ein schwieriges Alter gerade, 35, in der Rush Hour des Lebens, alles muss gleichzeitig passieren, Mama, Rasen mähen und dann eben noch Feuerwehrbuch. Kein Wunder, dass ihm das manchmal alles über den Kopf wächst. Aber ich kenn das schon. Ich nehm jetzt mal den Schnuller aus dem Mund, dreh mich zu ihm um, zeig ihm meine Grübchen, alle beide, und gebe ihm einen extra feuchten Kuss.

Ach, Erwachsene. So berechenbar… »

Zum Autor

Jonas Ratz,
Vater von Frederik und Oliver und Elisa.

Liebstes Kinderbuch: « Wo die wilden Kerle wohnen » von Maurice Sendak (Oft habe ich das Gefühl: bei uns zu Hause…).

Nervigstes Kinderspielzeug: mein Smartphone

Erziehungsstil: Erziehung ist das, was passiert, während man daran scheitert, ein Vorbild zu sein.

Sammelt: Kinderworte. Hafersocken statt Haferflocken, Sambalamba statt Salamander.

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