Stoppt die Einhornisierung der Kinderzimmer!

Eine Elternkolumne von Jens Radü, Spiegel online.

Es hat ein Horn, große Augen und es ist überall: Einhörner auf Shirts, Büchern und Haarspangen. Wo kommt das her? Und viel wichtiger: Geht das wieder weg?

Der Wächter ist ein Bär von einem Mann, bei jeder Bewegung spannen seine Muskeln und drohen sein Hemd zu sprengen. Aber es hat auch etwas Melancholisches, wenn er sanft ins Signalhorn bläst, einmal lang, dreimal kurz: Auf sein Zeichen hin strömen bei Morgenanbruch die Einhörner durch das Westtor in die Stadt, Tausende von ihnen, goldglänzendes Fell und ein schneeweißes Horn auf der Stirn.

Der japanische Autor Haruki Murakami beschreibt diese Szene in seinem Roman »Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt«. In dem Buch geht es noch um verschüttete Träume, dunkle Mächte und Dosenbier, aber es ist die Gimli-der-Zwerg-Figur des Wächters, mit der ich mich am meisten identifiziere: ein Mann und Tausende Einhörner.

Mit zwei Einschränkungen: Ich bin deutlich windschnittiger gebaut. Und: Ich habe die Einhörner nicht herbeigerufen. Sie sind einfach da: auf dem T-Shirt. Auf der Brotbox. Dem Vorlesebuch. Der Baseballkappe. Anhänger. Haarspange. Auf dem Rucksack und dem Kleid, in Rosa, Lila, Pink, wiiiiiiieeeherrrr, mal mit Flügeln, mal ohne, immer mit Flattermähne, Horn und großen Anime-Augen, die zu flehen scheinen: »Kauf mich, ach was, kauf die ganze Herde!«

Ich kann nicht mehr genau sagen, wann die schleichende Einhornisierung unseres Haushalts angefangen hat. Aber angesichts der schieren Menge muss es vor etwa anderthalb Jahren gewesen sein: Elisa wechselte gerade die Kita-Gruppe, von den kleinen Fröschen zu den großen Tausendfüßlern, sie hatte ein paar abgelegte Klamotten bekommen von ihrer Cousine und von den Töchtern einer befreundeten Familie. Und plötzlich hielten die gehörnten Huftiere Einzug in unser Leben, ganz ohne Murakami-Wächter und Signalgetröte. Erst die Haarspange, ganz dezent, einfarbig, kaum zu erkennen. Dann die geerbte Strumpfhose. Beim Kindergeburtstag ihrer Freundin Ida wurden Feen-Zauberstäbe mit Glitzer und – raten Sie – Einhornsticker gebastelt. Plötzlich tauchten auch Einhorn-Pixiebücher auf. Oder Hörspiele. Und als Elisa selbst ihren Vierten feierte, schenkten ihr Greta und Ida natürlich zwei Einhörner aus Hartplastik. Mama Einhorn und Baby Einhorn. Awww.

Was soll das? Und wann geht das, bitteschön, wieder weg?

Können diese Hörner lügen?

Die schlechte Nachricht: Ein Ende des Einhorntrends ist nicht abzusehen. Ein Wunder, dass die schwarz-rot-goldene Bundesflagge noch nicht um das gehörnte Wappentier ergänzt wurde. Ich ahne Schlimmes, wenn Elisa und ihre Freundinnen dereinst ins wahlfähige Alter kommen und eine Onlinepetition starten: Erdrutschsieg, können diese Hörner lügen?

Das Kitschtier ist in seiner Allgegenwart so gaga wie geschäftsfördernd: Als ein Schokoladenhersteller vor ein paar Jahren eine Einhorn-Sonderedition herausbrachte, waren die 150.000 Tafeln innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Und es gibt inzwischen Bratwurst mit Einhorn-Motiv. Bratwurst!

Auch die Wissenschaft hat sich des Phänomens angenommen: »Der Ursprung des Einhorns ist sehr wahrscheinlich eine Abbildung aus Indien, die eigentlich einen Ochsen von der Seite abbildet«, erklärt Markus Gabriel, der an der Universität Bonn den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie, Philosophie der Neuzeit und Gegenwart innehat. »Durch Missverständnisse wurde daraus die Vorstellung, dass dort kein Ochse abgebildet ist, sondern diese merkwürdige Kreatur mit einem Horn am Kopf.« Die Geburt des Einhorns.

Und der Beginn einer beispiellosen Marketingkarriere, quer durch die Jahrhunderte: von antiken Märchen über Kupferstiche aus dem Mittelalter bis zum Zeichentrickfilm »The last Unicorn«, in dem die Titelheldin 1982 über die Kinoleinwände galoppiert. Offenbar ist die Menschheit nachhaltig fasziniert von dem Fantasiewesen. Zumindest der minderjährige Teil: »Einhörner sind weiblich konnotiert, sanft, anmutig und freundlich – alles Stereotype, klar«, sagt Gabriel. Und ein Frauenbild wie aus der Toffifee-Familie der Achtzigerjahre, so halbdimensional und weichspüler-aprilfrisch, dass einem übel wird: Mädchen spielen mit rosa Fabelwesen, Jungs mit dem Bagger, Mädchen werden mal Krankenschwester, Jungs Polizisten, hier Rosa, da Blau.

Geschlechterklischees in der Werbung? Verboten!

In Spanien hat die Regierung solche Geschlechterklischees in der Spielzeugwerbung verboten: Ziel sei es, ein »pluralistisches, egalitäres und stereotypenfreies Bild von Minderjährigen zu fördern«, schreibt das Ministerium für Verbraucherschutz. 64 Standards umfasst der neue Kodex, den der Dachverband der spanischen Spielzeughersteller unterzeichnet hat: Werbung für Spielzeug, das mit Pflege, Hausarbeit oder Schönheit zu tun hat, soll sich nicht ausschließlich an Mädchen richten. Gleichzeitig sollen nicht nur Jungs angesprochen werden, wenn es um Technik, Tatkraft oder körperliche Aktivität geht.

In den Empfehlungen des deutschen Werberats findet sich eine solche Passage übrigens nicht. Es bleibt Vereinen wie »Pinkstinks« überlassen, gegen die pastellfarbenen Geschlechterklischees in Anzeigen und Spots zu kämpfen: »Pinkstinks ist der verzweifelte Ausruf von Eltern, die bei H&M für ihre Tochter in die Jungsabteilung gehen müssen, um für sie eine Hose zu finden, mit der sie auf Bäume klettern kann. Pinkstinks ist die Wut der Eltern, deren Sohn Pink als Lieblingsfarbe hat und dafür in der Schule gemobbt wird«, schreiben die Aktivistinnen auf ihrer Website . Deutschland #RosaHellblauFalle.

Elisa sieht das alles offenbar etwas pragmatischer: In ihrer Welt sind Einhörner deutlich wehrhafter als im Hörspiel, sie fauchen wie Tiger, wenn man sie kitzelt, sie leben im Zoo und kriegen hundert Babys. Soweit Brehms Tierleben, Vierjährigen-Edition. Und ich fühle mich einmal mehr wie der muskulöse Wächter in »Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt«:

»Warum treiben sie abends die Tiere zusammen und aus der Stadt hinaus, nur um sie am nächsten Morgen wieder hereinzulassen?«, fragt Murakamis Hauptfigur.

»Der Wächter starrt mich eine Weile völlig ausdruckslos an. ›Weil es Vorschrift ist‹, antwortet er. ›Deshalb. Genauso wie die Sonne, die im Osten auf- und im Westen untergeht.‹«

Quelle: wir haben diesen Artikel von Jens Radü auf Spiegel online gefunden. Die Seite von pink stinks können wir übrigens auch sehr empfehlen, genauso wie den Artikel von pink stinks Autor Nils Pickert.

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